Das Gefühl, die Freiheit verloren zu haben, ist keine Frage des Alters

Frau G. ist eine hochbetagte Seniorin, die während der Zeit von Corona von ihrer häuslichen Umgebung in ein Altenheim gezogen ist. Kurz vor dem Interview, das ich mit ihr für ein studentisches Forschungsprojekt führte, ist sie 93 Jahre alt geworden. Ich traf Frau G.im Mai 2021 in ihrem Altenheim, nach Voranmeldung und Corona Test und unter Einhaltung der Hygienemaßnahmen. Das persönliche Treffen war ihr wichtig.

Das Forschungsinteresse galt der Frage: Wie erleben bedürftig gewordene Menschen den Umzug vom eigenen Wohnumfeld in ein Altenheimin Zeiten von Corona? Ich fragte sie. Für Frau G. ist Corona schlimm. Das erzählt sie immer wieder. Sie berichtet davon, dass sie täglich unterwegs war und es ist nun schlimm für sie, dass keine Cafés, Gastronomie und Einkaufsmöglichkeiten mehr geöffnet sind. Sie fühlt sich eingesperrt, besonders weil sie ihren Handlungs- und Bewegungsradius durch den Lockdown als eingeschränkt erlebt. „Ich kann zwar spazieren gehen und in den Park gehen und mich auf die Bank setzen, aber das ist so ungefähr alles.“ Dass sie nicht mehr reisen kann, so erzählt Frau G., das geht ihr besonders ab. Sie hat über 150 Reisen gemacht. Studienreisen. Fremde Länder interessieren sie. Was z.B. in Brasilen oder Tschechien wegen Corona passiert, verfolgt sie im TV. „Da geht es uns noch gut“, meint Frau G. Für sie ist es kein Widerspruch, dass sie das Reisen auch altersbedingt aufgeben musste oder dass sie ohnehin nicht einkaufen muss, weil sie im Heim versorgt wird: „Ich muss ja nicht einkaufen, ich krieg ja alles“. Sie fühlt sich dennoch betroffen. Das Gefühl des Bedauerns über den Verlust von Freiheit und Autonomie ist in ihren Schilderungen allgegenwärtig. Es wird im Gespräch deutlich, dass Freiheit ein allgemeines und hohes Gut für Frau G. ist und dass die Einschränkungen dieser Freiheit, egal ob tatsächlicher oder gefühlter Art, in ihrem Leben und Denken präsent sind. Was denn für sie das wichtigste sei? „Dass man sich frei bewegen kann“ antwortet Frau G. ohne Überlegung. Und führt weiter aus: „Dass man in Geschäfte gehen kann oder in Lokale gehen kann.“ Sie vermisst das, genauso wie das Reisen und meint, das findet sie schon schön. Das verallgemeinernde „man“ benutzt sie oft. Und bedauert zum Abschied, dass „man“ sich nicht die Hand geben darf.