“Raus aus dem Loch, raus aus dem Lockdown“

Annelie, 36 Jahre, Ines, 17 Jahre Praxisprotokoll aus dem ASD einer mittelgroßen Stadt in NRW, im ersten Lockdown Frühjahr 2020

Aus der Zeit während des ersten Lockdowns ist mir eine Situation besonders im Gedächtnis geblieben. Im Praxissemester bekam ich wegen der Abwesenheit meiner Anleiterin verschiedene ihrer Fälle übertragen. In einer Akte las ich, dass ich den Kennlerntermin zwischen einer jungen Frau, Ines (17 Jahre), und einer sozialpsychiatrischen Wohngruppe absagen solle. Wegen der Pandemie sei eine Kontaktaufnahme nicht möglich. Ines wollte wohl offenbar nicht mehr zu Hause wohnen, weil sich die Situation zwischen ihr und ihrer Mutter so zugespitzt hatte, dass ein Zusammenleben nicht mehr denkbar sei. Es hatte offenbar Anfang des Jahres schon einen Versuch gegeben, Ines in einer Intensivwohngruppe mit psychiatrischer Ausrichtung unterzubringen, der jedoch scheiterte, da die junge Frau sich nicht vorstellen konnte, dort zu wohnen. Es wurde daraufhin eine weitere Einrichtung gesucht und hier sollte nun das Kennenlernen auch stattfinden. 

Ich telefonierte mit der zuständigen Mitarbeiterin vom Fachdienst Heimunterbringung, da diese ebenfalls in den Fall involviert war und ich abklären sollte, ob der Termin so stattfinden könne. Es stellte sich nun heraus, dass die Mitarbeiterin zu einer Corona-Risikogruppe gehörte, und den Termin gerne verschieben wollte. Ich rief also zuerst die Mutter von Ines, Annelie, an und unterrichtete sie über eine mögliche Verschiebung des Termins. Annelie war darüber ziemlich unglücklich, sie wirkte am Telefon recht verzweifelt und erklärte mir die Vorgeschichte und auch die momentane Lage zwischen Mutter und Tochter im Zusammenwohnen. Die Situation zu Hause sei sehr angespannt und außerdem mache sie sich seit dem Lockdown noch größere Sorgen um ihre Tochter, da diese schon wieder in einer depressiven Phase sei, ihre ohnehin wenigen Sozialkontakte seit dem Lockdown noch weiter zurückgegangen wären (“Ist ja nun mal so.”) und sie sich immer weiter zurückzöge. Weiter sagte sie, der Termin mit der Wohngruppe sei für ihre Tochter und auch für sie selbst mit großer Hoffnung verbunden gewesen und sie habe nun die Sorge, dass sich die Situation und der Zustand ihrer Tochter weiter verschlechtern würde.

Ich versprach ihr daraufhin, noch einmal mit allen Beteiligten bezüglich des Kennenlernens zu sprechen. Nach Rücksprache mit meinem Bezirksleiter nahm ich Kontakt zu der zuständigen Mitarbeiterin der Wohngruppe auf. Ich beschrieb ihr die Situation und auch den Wunsch von Ines, den Termin auf jeden Fall wahrnehmen zu wollen. Die Pädagogin erklärte sofort ihre Bereitschaft, den Termin stattfinden zu lassen, und so konnte ich diese positive Nachricht weiterleiten. Ines und Annelie waren so erleichtert, dass sie mir per Mail, später am Telefon und auch persönlich beim nächsten Hilfeplangespräch ihre Dankbarkeit ausdrückten. Dies zeigte mir, wie wichtig dieser Termin für beide gewesen sein muss und in welche Situation der Lockdown Menschen bringen kann, die in einer Situation stecken, die nicht aufzuschieben ist.