“Altenheim soll kein Gefängnis sein“

Herr Titzian, 70 Jahre; Praxisprotokoll einer Studentin aus einer Wohneinrichtung für alte Menschen, NRW; Oktober 2020

In der Wohneinrichtung gibt es zurzeit die Regel, dass die Bewohner*innen eine zweiwöchige Quarantäne in ihrem persönlichen Zimmer verbringen müssen, wenn sie über zwölf Stunden außer Hauses gewesen sind. Dies gilt zum Schutz vor dem Corona-Virus auch, wenn sie einen negativen PCR-Test vorweisen können.

Herr Titzian wohnt seit ca. drei Jahren in der Senioreneinrichtung. Er hatte zuvor einen Schlaganfall und ist halbseitig gelähmt, so dass er auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Ich klopfe an einem Dienstagvormittag an Herrn Titzians Tür, um ihn zu fragen, ob wir zusammen das schöne Wetter nutzen wollen und ich ihn im Rollstuhl durch den Garten schieben solle. Diese “Draußen-Zeit“ wird im Heim als wichtig für die Bewohner*innen angesehen und die Mitarbeiter*innen fragen daher regelmäßig nach, ob jemand Lust hat, nach draußen zu gehen.

Herr Titzian macht mir die Tür auf und bittet mich hinein. Im Zimmer frage ich Herrn Titzian, wie es ihm heute geht und ob er mit mir nach draußen kommen möchte. Ich mache ihn auf den blauen Himmel und das schöne Wetter aufmerksam. Herr Titzian reagiert ziemlich entnervt und ärgerlich: “Ich darf nicht mal für zwei Tage zu meiner Freundin, aber soll jetzt auf einmal in den Garten gehen. Die können mich doch alle mal!“ Ich frage, ob ich mich setzen darf. Herr Titzian bittet mich Platz zu nehmen und beginnt über die Einrichtung zu schimpfen. Er sagt: “Nur weil ich mal zwei Tage hier weg möchte, muss ich danach direkt zwei Wochen in Quarantäne. Das ist doch Willkür! Das machen die, um mich einzusperren. Ich möchte hier nicht sein, ich möchte wieder nach Hause. Hier hab’ ich nichts. Corona kann so schlimm nicht sein wie das Eingesperrt-Sein.“ Ich sage ihm, dass ich ihn verstehen würde, aber dass die Regeln wegen der Corona-Pandemie nun mal für alle Bewohner*innen gelten und dass dies ja zum Schutz für die Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen geschehe. Ich schlage ihm vor, dass er sich doch mit seiner Freundin draußen im Garten treffen könne oder er wenigstens ein paar Stunden mit ihr verbringen könne. Herr Titzian sagt: “Ach was! Mit mir sind hier alle besonders streng. Vor allem die Chefin. Reine Willkür.”  Die sollten sich mal nicht so anstellen. Es habe jedenfalls keine Lust auf Garten, vielleicht morgen.

Kontakte nach draußen haben in stationären Einrichtungen einfach noch mehr Hürden und Beschränkungen zu überwinden als für alle, die in ihrer eigenen Wohnung leben.